Simona Harms (M.A.)Direkt zum Seiteninhalt
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Der Abstieg

Meine Finger krallten sich in Christophs Jeansjacke. Auf einem Bein hüpfend, meckerte ich leise vor mich hin und zog meinen rechten Schuh schleifend durch das hohe Gras.

"Wenn du eine Fliege wärst, würdest du dich über deinen gefundenen Festschmaus freuen", stellte Christoph seelenruhig fest. Lag da etwa ein Hauch Belustigung in seiner Stimme?

"So ein Blödsinn", motzte ich.

Christoph lachte und zog mich am Arm herab, bis wir beide direkt vor dem zertretenen Kuhfladen hockten. Er war frisch und stank furchtbar.

"Schau ihn dir genau an. Riech doch mal", sagte Christoph.

"Ja, ekelig. Der dampft fast noch."

"Ja, aber stell dir mal vor, du wärst eine Fliege. Dann wäre das dein Leibgericht und bei diesem Duft würde dir das Wasser im Munde zusammen laufen! Du würdest dich draufstürzen, als wär’s Mousse au Chocolat und gar nicht genug davon bekommen."

"Es ist aber keine Mousse au Chocolat. Es ist nur ein stinkender Kuhfladen."

Christoph beendete seine Lektion seufzend und erhob sich mit den Worten: "Das kommt dir nur so vor, weil du zufällig ein Mensch aus dem 21. Jahrhundert bist, der in einer mitteleuropäischen Großstadt aufgewachsen ist."

Wir gingen weiter. Nach ein paar Schleifschritten war mein Wanderschuh fast befreit von den Kuhfladenresten. Es war schön, am Wochenende mal raus zu kommen. Wir machten das regelmäßig, nahmen mal die Räder und mal gingen wir zu Fuß, entlang der unzähligen Rad- und Wanderwege im Rheintal und in den umliegenden Hügeln und Bergen.

Ich war mir nicht sicher, wohin die Geschichte mit Christoph führten sollte. Er sagte dauernd seltsame Dinge und war definitiv kein Kandidat, um ihn meinen Eltern vorzustellen. Allein die Vorstellung, er würde auf meinen Vater treffen... Und doch genoss ich die gemeinsame Zeit. Schon unsere erste Begegnung war denkwürdig verlaufen: Eine lockere Runde im Kollegenkreis, auf einer After-Work-Party. Plötzlich hatte Christoph neben mir gestanden und laut gefragt, ob er mir für die nächste Stunde Gesellschaft leisten könne - danach müsse er leider fort, seinen Zug erwischen. Die Kollegen zogen mich heute noch damit auf. Seither war bei fast allen Treffen mit Christoph irgendetwas Unerwartetes passiert.

Mittlerweile gingen wir scharf bergauf. Ich musste mit meinem Atem haushalten, um keine Seitenstiche zu bekommen, daher folgte ich eher still und leise schnaufend Christophs Ausführungen zu den Sinnesorganen der gemeinen Hausfliege.

"Deswegen kann man die auch nicht so leicht mit der Hand einfangen", berichtete er mit Begeisterung. "Aus Fliegensicht bewegen wir Menschen uns im Schneckentempo. Für uns sind schon ca. 40 Bilder pro Sekunde ein Film, aber Fliegen sehen bis zu 300 Bilder in einer einzigen Sekunde! Unglaublich! Stell dir das mal für einen Augenblick vor!"

Es gab nicht Vieles, das mich in diesem Augenblick so wenig interessierte, wie das Bewusstsein einer Fliege. Ich schnaufte abfällig, stapfte aber weiter beharrlich hinter Christoph her. Schweiß rann meinen Arm herab, versickerte in kleinen Rinnsalen in meiner Ellenbogenbeuge oder tropfte auf den Waldboden. Womöglich ertrank in meinem Schweißtropfen gerade ein Insekt, dachte ich im Weitergehen.

Auf dem Gipfel angekommen genossen wir den Ausblick über das Rheintal. Es wurde zunehmend dämmerig, die Wälder waren tiefschwarz und nur ein kleiner Rest tiefen Blaurosas verwischte die letzten Sonnenstrahlen hinter der nächsten Bergkuppe. Wir setzten uns rittlings auf ein altes Mauerstück und Christoph hielt mir die Wasserflasche unter die Nase. Kurze Pause zum Essen der mitgebrachten Leberwurstbrote. Der Schweiß trocknete auf meiner Haut und die wohlige Entspannung nach der Bewegung ließ mich lächeln.

"Schade, dass du das so selten tust", bemerkte Christoph.

"Was?"

"Lächeln."

"Ich lächele selten? Na hör’ mal!"

"Ja, sehr selten. Du lässt dich überhaupt selten mal fallen, entspannst dich kaum. Ich hatte gedacht, mit etwas mehr Kontakt zur Natur würde das von alleine wieder kommen, aber es ist wohl zu tief vergraben", er schaute nachdenklich über die Baumwipfel und pendelte mit seinem Fuß rhythmisch gegen die Mauer, auf der wir saßen. Als nächstes sagte er:

"Ich möchte unsere Beziehung nicht mehr fortführen, Anna."

Mir blieb beinahe das Leberwurstbrot im Hals stecken. Wie konnte man so etwas sagen, wenn man in der Mitte von Nirgendwo auf einer Bergkuppe saß und noch den ganzen gemeinsamen Rückweg vor sich hatte?

"Du trennst dich von mir, jetzt?"

"Ja, eben beim Aufstieg, da wurde es mir ganz klar."

"Du trennst dich von mir, weil ich Kuhfladen ekelig finde und mich nicht stundenlang über Fliegen austauschen möchte?" erwiderte ich eine Spur zu zickig.

"Nein, ich trenne mich von dir, weil deine Fantasie nicht ausreicht, das Wunder des Lebens auch mal in einem Kuhfladen zu suchen, und weil du so versunken in deine eigene beschränkte Wahrnehmung bist, dass dir eine andere Sichtweise gar nicht mehr in den Sinn kommt."



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Eine Kurzgeschichte von Simona Harms. Bonn, Juni 2007.
(überarbeitet September 2009)

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Texte

Zitiertes
Der Abstieg
Prosafragment
Magisterarbeit
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Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am: 10 Oktober 2009